1923 Aufbruch und Symbolik
Die Wasserkuppe, hatte sich bis zum Jahr 1923 bereits als der „Berg der Flieger“ etabliert. Diese Entwicklung wurde maßgeblich durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages nach dem Ersten Weltkrieg befeuert, die den motorisierten Flugzeugbau und -betrieb in Deutschland stark einschränkten. Der Segelflug bot somit eine der wenigen Möglichkeiten, fliegerisches Können zu erhalten und weiterzuentwickeln, was ihm eine besondere nationale Bedeutung verlieh.
Das Jahr 1923 steht exemplarisch für die „Goldene Ära“ des deutschen Segelflugs. Es war geprägt von rasanten Fortschritten in der Flugzeugkonstruktion, neuen Flugrekorden und einer wachsenden Gemeinschaft leidenschaftlicher Flieger und Ingenieure. Gleichzeitig war es ein Jahr, das die Ambivalenz der Weimarer Republik widerspiegelte: technische Brillanz und jugendlicher Enthusiasmus trafen auf glühenden Nationalismus, wirtschaftliche Instabilität. Der Segelflug war nicht nur Sport, sondern auch ein Symbol deutscher Ingenieurskunst und ein Ventil für nationale Bestrebungen.
Die Segelflugwettbewerbe auf der Rhön waren die jährlichen Höhepunkte für Segelflieger und Konstrukteure. Der IV. Rhön-Segelflugwettbewerb des Jahres 1923 setzte diese Tradition fort und zog zahlreiche Teilnehmer an, die darauf brannten, neue Maschinen und ihr fliegerisches Können zu erproben. Ausgeschrieben waren Preise für verschiedenste Leistungen, darunter die längste Flugdauer und die größte größte Flugstrecke.
Die Einweihung des Fliegerdenkmals
Ein zentrales Ereignis des Wettbewerbs war die Einweihung des Fliegerdenkmals am 30. August 1923. Dieses Monument wurde zur Erinnerung an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Flieger errichtet. Trotz eines Werktages strömten über 30.000 Menschen zur Wasserkuppe. Die Anwesenheit hochrangiger Persönlichkeiten wie Prinz Heinrich von Preußen und General Ludendorff unterstrich die nationale Bedeutung der Veranstaltung.
Die Inschrift des Denkmals – „WIR TOTEN FLIEGER BLIEBEN SIEGER DURCH UNS ALLEIN - VOLK FLIEG DU WIEDER UND DU WIRST SIEGER DURCH DICH ALLEIN“– spiegelte den revisionistischen und herausfordernden Zeitgeist wider. Sie verband das Gedenken an die Kriegstoten mit einem Appell an die nationale Wiedergeburt durch die Fliegerei. Dieser nationalistische Unterton war prägend für die Veranstaltung und die Segelflugbewegung jener Zeit.
Der Tag selbst war von extrem stürmischem Wetter gezeichnet und machten geplante Motorflugvorführungen unmöglich. Dennoch wagten sich einige Segelflieger in die Lüfte. Die Entscheidung, trotz der widrigen Bedingungen Flugdemonstrationen durchzuführen, zeugt von einer potenten Mischung aus fliegerischem Ehrgeiz, dem Druck, vor der großen Menschenmenge und den Ehrengästen zu bestehen, und möglicherweise einer Unterschätzung der Risiken, die mit der noch jungen Technologie und den unzureichenden meteorologischen Kenntnissen verbunden waren.
Trotz der gefährlichen Bedingungen kam es zu mehreren Flügen. Max Standfuß verunglückte mit seinem „Erfurter Eindecker“ tödlich. Durch eine „scharfe Böe“ brach in etwa 30 m Höhe ein Flügel seiner Maschine. Er war das dritte Todesopfer in der Geschichte des Segelflugs.
Die Einweihung des Fliegerdenkmals war somit nicht nur eine Gedenkfeier, sondern eine machtvolle politische Kundgebung, die den aufstrebenden Segelflugsport und die Erinnerung an die Weltkriegsflieger nutzte, um ein nationales Narrativ von Trotz und zukünftigem Wiederaufstieg zu fördern. Die Unfälle des Tages unterstrichen auf tragische Weise die realen Gefahren dieses Strebens, „wieder zu fliegen“.
Das Jahr 1923 sah das Debüt mehrerer bedeutender Segelflugzeugkonstruktionen, die auf der Wasserkuppe und in der breiteren deutschen Segelflugszene für Aufsehen sorgten. Das Aufkommen dieser neuen Entwürfe von verschiedensten Gruppen – von Einzelkonstrukteuren über Akafliegs bis hin zu Fliegervereinen – demonstriert ein dezentralisiertes und höchst wettbewerbsorientiertes Innovationsökosystem im deutschen Segelflug.
Messerschmitt S 14
Die S 14 war eine Konstruktion von Willy Messerschmitt und sein letzter motorloser Entwurf, bevor er sich dem Motorflugzeugbau zuwandte. Sie wurde in kürzester Zeit für den IV. Rhön-Wettbewerb entwickelt, nachdem seine ursprüngliche Konstruktion S 13 aufgrund eines Materialfehlers abgestürzt war. Zwei Exemplare der S 14 wurden rechtzeitig für den Hauptwettbewerb im August fertiggestellt. Die Konstruktionspläne der S 14 reichte Messerschmitt zudem als Diplomarbeit an der Technischen Hochschule München ein und schloss damit sein Maschinenbaustudium erfolgreich ab. Diese enge Verknüpfung von praktischer aeronautischer Erprobung und formaler Ingenieursausbildung war ein Kennzeichen der damaligen Zeit in Deutschland und beschleunigte die Entwicklung.
Messerschmitt S 14 – Technische Daten
Kenngröße | Daten |
Besatzung | 1 |
Spannweite | 13,80 m |
Länge | 5,50 m |
Höhe | 1,10 m (ohne SLW) |
Flügelfläche | 18,80 m² |
Flügelprofil | Gö 482 |
Flügelstreckung | 10,1 |
Leermasse | 105 kg |
max. Startmasse | 180 kg |
Flächenbelastung | 9,3 kg/m² |
Quellen: 11
Hans Hackmack erzielte mit einer S 14 die größte Höhe des Rhönwettbewerbs 1923, indem er bei böigem Wind etwa 303 Meter (bzw. 310 Meter laut ) über dem Startplatz erreichte. Dieser Flug brachte ihm mehrere Preise ein, und Willy Messerschmitt wurde für die Entwicklung der S 14 mit einem der Konstruktionspreise der Georgenstiftung ausgezeichnet. Eine der beiden S 14 wurde später an die Arbeitsgemeinschaft Unterfranken Würzburg verkauft. Am 30. August stürzte Hackmack jedoch mit einer S-14 ab, erlitt aber nur leichte Verletzungen.
Akaflieg Berlin Charlotte II
Die Charlotte II war ein einsitziges schwanzloses Segelflugzeug der Akademischen Fliegergruppe Berlin, das unter Verwendung der Tragfläche der ursprünglichen „Charlotte“ entstand, die im August 1922 schwer beschädigt worden war. Die Konstruktion erfolgte im Winter 1922/23.Im Unterschied zum Vorgängermodell verfügte die Charlotte II über eine verbesserte Steuerung ausschließlich über Klappen an der Tragfläche. Unter der Tragfläche hing ein strömungsgünstiger Holzrumpf mit zentraler Kufe und abnehmbarer Heckfinne.
Akaflieg Berlin Charlotte II – Technische Daten
Kenngröße | Daten |
Besatzung | 1 |
Spannweite | 14,20 m |
Länge | 4,10 m |
Höhe | 1,50 m |
Flügelfläche | 19,5 m² |
Flügelstreckung | 9,4 13 (10,3 14) |
Leermasse | 133 kg |
max. Startmasse | 203 kg |
Flächenbelastung | 10 kg/m² |
Die Charlotte II nahm an den Rhönwettbewerben 1923 und 1924 teil. Sie flog auch beim ersten österreichischen Segelflugwettbewerb in Stockerau bei Wien 1923 und beim Ersten Internationalen Segelflugwettbewerb Italiens im Oktober 1924 in Asiago. Während des Rhönwettbewerbs 1923 führte die von Hermann Winter (Mitkonstrukteur) geflogene B3 einige Gleitflüge durch, kollidierte dabei aber mit einem Baum; Winter blieb unverletzt.
Bemerkenswerte Flugleistungen & Zwischenfälle – IV. Rhön-Wettbewerb 1923
Pilot | Flugzeug | Datum (ggf.) | Leistung/Zwischenfall | Details (Distanz, Höhe, Dauer, Art) |
Arthur Martens | „Strolch“ | Streckenrekord | 12 km 19 | |
Hans Hackmack | Messerschmitt S 14 | Höhenrekord | 303 m (oder 310 m) 5 | |
Spieß | Akaflieg Darmstadt „Edith“ | Dauerflug | 1h 17min 10 | |
Fritz Stamer | „Bremen“ | 30. Aug | Bedeutender Flug | 35 min bei Sturm 4 |
Max Standfuß | „Erfurter Eindecker“ | 30. Aug | Tödlicher Unfall | Flügelbruch 4 |
Hans Hackmack | Messerschmitt S 14 | 30. Aug | Absturz | Leichte Verletzungen 4 |
Richard Tracinski | „Galgenvogel“ | 30. Aug | Absturz | Kopfverletzungen 4 |
Otto R. Thomsen | „Der Dessauer“ | 30. Aug | Landeunfall | Flugzeug schwer beschädigt 12 |
Hermann Winter | Akaflieg Berlin Charlotte II | Kollision mit Baum | Pilot unverletzt 15 |
Das Jahr 1923 demonstriert eine kritische Lernkurve, in der theoretische Konstruktionsfortschritte unmittelbar und oft hart mit den Realitäten der Flugbedingungen und Materialgrenzen konfrontiert wurden, was sowohl zu Durchbrüchen als auch zu Fehlschlägen führte.
Martens' 12-km-Flug mit dem „Strolch“ war ein deutliches Zeichen für das wachsende Potenzial des Streckensegelflugs. Hackmacks Höhengewinn von 310 m mit der S 14 bewies die Fähigkeit, starke Aufwindbedingungen auszunutzen. Spieß' Dauerflug von 1 Stunde und 17 Minuten mit der „Edith“ zeigte die zunehmende Fähigkeit zu anhaltendem Thermik- oder Hangflug.