1928 Schleicher, Lippisch und die Pioniere der Rhön
Der Segelflug an der Schwelle zu neuen Möglichkeiten
Das Jahr 1928 markiert einen bemerkenswerten Wendepunkt in der noch jungen Geschichte des Segelflugs. Nach den ersten, oft mühsamen Versuchen der Nachkriegszeit, in der der motorlose Flug von einfachen Hangrutschern zu ersten echten Segelflügen evolvierte, stand die Fliegerwelt an der Schwelle zu grundlegend neuen Möglichkeiten. Die Wasserkuppe in der Rhön hatte sich bereits als das unbestrittene Zentrum dieser Entwicklung etabliert. Doch 1928 war mehr als nur eine Fortsetzung früherer Bemühungen; es war ein Jahr der Beschleunigung, in dem eine Konvergenz aus unternehmerischem Mut im Flugzeugbau, bahnbrechenden aerodynamischen Innovationen und herausragenden fliegerischen Leistungen eine neue Ära einläutete.
Diese Periode des Umbruchs lässt sich nicht allein durch individuelle Geniestreiche erklären. Vielmehr vollzog sich 1928 ein kritischer Wandel von einer weitgehend amateurhaften, experimentellen Betätigung hin zu ersten professionellen Strukturen. Die Gründung von spezialisierten Fertigungsbetrieben und die systematische Forschungsarbeit an Institutionen wie der Rhön-Rossitten-Gesellschaft (RRG) signalisierten, dass der Segelflug begann, sich auf ein stabileres Fundament zu stellen. Es ging nicht mehr nur um die Leidenschaft Einzelner, sondern um den Aufbau eines nachhaltigen Ökosystems für Entwicklung, Fertigung und Wissensaustausch. Die Erfolge des Jahres 1928 wurzelten maßgeblich in dieser sich formierenden Infrastruktur.
Die Bedeutung des Jahres 1928 für Innovation und Wettbewerb
Die Signifikanz des Jahres 1928 liegt nicht nur in inkrementellen Verbesserungen bestehender Konzepte, sondern in echten Durchbrüchen, die die Zukunft des Segelflugs nachhaltig prägen sollten. Dies umfasste die Gründung von Schlüsselunternehmen im Flugzeugbau ebenso wie die praktische Anwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Aerodynamik und Meteorologie. Der IX. Rhön-Wettbewerb diente dabei als zentrales Schaufenster und Prüfstand, auf dem diese Fortschritte einer breiten Fachöffentlichkeit präsentiert und unter realen Bedingungen erprobt wurden. Die hier erzielten Leistungen demonstrierten eindrücklich das Potenzial der neuen Entwicklungen und beflügelten die weitere Forschung.
Die Entwicklungen des Jahres 1928, insbesondere der Fokus auf Leistungssegelflug und das beginnende Verständnis meteorologischer Phänomene wie der Thermik, begannen den Segelflug zudem deutlicher vom reinen Gleitflug abzugrenzen. Damit wurde der Grundstein für den strategischen, langandauernden und weitreichenden Überlandflug gelegt, wie wir ihn heute kennen. Es war der Beginn einer Entwicklung, die den Segelflug von der reinen Hangfliegerei emanzipierte und ihm den Weg in den freien Luftraum wies.
Bundesarchiv, Bild 102-13690 / CC-BY-SA 3.0
Vorstellung der Protagonisten: Schleicher und Lippisch
Zwei Persönlichkeiten stehen exemplarisch für die Dynamik dieses Jahres: Alexander Schleicher und Alexander Lippisch. Schleicher, der aufstrebende Unternehmer und Handwerker, legte mit der Gründung seines Flugzeugbaubetriebs den Grundstein für die Serienfertigung von Segelflugzeugen und trug so maßgeblich zu deren Verbreitung bei. Alexander Lippisch hingegen wirkte als visionärer Konstrukteur und Forscher bei der Rhön-Rossitten-Gesellschaft, wo er die aerodynamischen und konzeptionellen Grenzen des Fliegens immer wieder neu auslotete und erweiterte. Ihr Wirken, oft in enger Verbindung und doch mit unterschiedlichen Schwerpunkten, prägte das Segelflugjahr 1928 entscheidend.
Schleichers Vision ging über den Bau von Einzelstücken hinaus. Er erkannte den Bedarf an zuverlässigen, in Serie gefertigten Segelflugzeugen, um den Sport einer breiteren Basis zugänglich zu machen. Von Beginn an setzte er auf die Zusammenarbeit mit führenden Konstrukteuren seiner Zeit, darunter Alexander Lippisch und Hans Jacobs, was sich als strategisch kluger Schachzug erweisen sollte.
Der "Hol's der Teufel" in Serie: Ein Übungsflugzeug erobert die Hänge
Das erste in Serie gefertigte Segelflugzeug aus Schleichers Werkstatt war der "Hol's der Teufel", dessen Produktion 1927/1928 anlief. Der Name und das ursprüngliche Konzept gehen auf Alexander Lippischs Entwurf "Djävlar Anamma" aus dem Jahr 1923 zurück. Die von Schleicher produzierte Version basierte auf einer Weiterentwicklung dieses Konzepts durch Lippisch und Hans Jacobs aus dem Jahr 1928. Diese wiederum war eine Evolution des bekannten Schulgleiters "Zögling", unterschied sich aber wesentlich durch die Einführung von Streben zur Flügelabstützung anstelle der bisher üblichen Verspannung mit Spanndrähten.
Schleichers Serienversion des "Hol's der Teufel" wies einige Modifikationen gegenüber den von Jacobs veröffentlichten Bauplänen auf. Während frühe Exemplare möglicherweise noch einen Spannturm und Drahtverspannungen ähnlich dem SG 38 besaßen, setzte sich die strebenverspannte Version durch. Die Schleicher/Jacobs-Variante hatte eine Spannweite von 12,568 m, eine Flügelfläche von 19,52 m² und eine Flügelstreckung von 8,1. Dieses Flugzeug wurde schnell zu einem weit verbreiteten Übungsgerät. Seine relativ gutmütigen Flugeigenschaften machten es ideal für die Anfängerschulung und die ersten Alleinflüge. Die Verfügbarkeit durch Schleichers Serienfertigung war ein wichtiger Schritt zur Standardisierung der Ausbildung und trug maßgeblich zur Popularisierung des Segelflugs bei.
Aerodynamische Revolution bei der Rhön-Rossitten-Gesellschaft (RRG)
Während Alexander Schleicher die Fertigung von Segelflugzeugen professionalisierte, trieb Alexander Lippisch bei der Rhön-Rossitten-Gesellschaft (RRG) die aerodynamische und konzeptionelle Entwicklung des motorlosen Flugs mit revolutionären Ideen voran.
Der "Professor" ("Rhöngeist"): Mit Variometer und Thermikgespür zu neuen Rekorden
Das Jahr 1928 sah den Erstflug einer Konstruktion, die das Segelfliegen nachhaltig verändern sollte: der von Alexander Lippisch bei der RRG entworfene "Professor". Der Prototyp, nach Lippischs Spitznamen auf den Namen "Rhöngeist" getauft, hob im Mai 1928 erstmals ab. Die RRG beabsichtigte, die Pläne dieses Flugzeugs Vereinen für den Eigenbau zur Verfügung zu stellen. Technisch war der "Professor" ein Hochdecker in Holzbauweise mit Stoff- und Sperrholzbeplankung. Der dreiteilige Flügel war auf einem markanten Pylon über dem Rumpf abgestützt und verfügte über einen Holm mit torsionssteifer Sperrholznase. Der Rumpf wies einen sechseckigen Querschnitt auf und das Cockpit war offen. Eine Besonderheit war das Pendelhöhenruder. Die wichtigsten Daten waren: Spannweite 16,10 m, Flügelfläche 18,6 m², Streckung 14 und das Flügelprofil Göttingen 549.
Die eigentliche Revolution des "Professor" lag jedoch in seiner Auslegung für die Nutzung thermischer Aufwinde und dem erstmaligen Einsatz eines Variometers in einem Segelflugzeug zu diesem Zweck. Diese Entwicklung war das Ergebnis einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Lippisch und Professor Walter Georgii, dem Leiter der RRG und Meteorologen. Georgii erforschte systematisch die Natur der Thermik, während Lippisch die aerodynamischen Grundlagen und die instrumentelle Ausstattung schuf, um diese bis dahin kaum genutzte Energiequelle zu erschließen. Diese Verbindung von meteorologischer Forschung und praktischer Flugzeugkonstruktion markierte einen Wendepunkt hin zu einem wissenschaftlich fundierten Segelflug.
Der IX. Rhön-Segelflugwettbewerb 1928: Bühne der Innovationen
Der IX. Rhön-Segelflugwettbewerb, ausgetragen von Juli bis August 1928, geriet zu einem Meilenstein in der Geschichte des Segelflugs. Er wurde zur Bühne, auf der die jüngsten technischen und methodischen Fortschritte eindrucksvoll demonstriert wurden.
Die beim Wettbewerb erzielten Leistungen spiegelten die rasanten Entwicklungen wider. Besonders hervorzuheben sind die folgenden Rekorde :
- Dauerflug: Robert Kronfeld erreichte mit dem von Lippisch entworfenen "Rhöngeist" eine Flugzeit von 7 Stunden und 54 Minuten. Diese Leistung war eine Sensation und demonstrierte eindrücklich das Potenzial des neu erschlossenen Thermikflugs.
- Fernsegelflugpreis: Johannes Nehring flog mit der von Völker konstruierten Akaflieg Darmstadt D-17 "Darmstadt" eine Strecke von 71,2 km.
- Höhenrekordprämie: Edgar Dittmar erreichte mit dem Segelflugzeug "Albert" eine Höhe von 775 Metern über dem Startplatz.
Tabelle 2: Technische Eckdaten bedeutender Segelflugzeuge von 1928 (Auswahl)
Flugzeugname | Konstrukteur(e) | Hersteller / Eigner | Spannweite | Flügelfläche | Leermasse | Besondere Merkmale 1928 | Quelle(n) |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Hol's der Teufel | Lippisch / Jacobs | A. Schleicher | 12,57 m | 19,52 m² | ~100kg+ | Serien-Übungssegler, Gitterrumpf, Strebenverspannung | |
Poppenhausen/Mannheim | (RRG Design) / Schleicher | A. Schleicher | 17,6 m | 26,0 m² | 210 kg | Zweisitzer, Leistungssegler/Schulflugzeug, hexagonaler Rumpf, gestrebt | |
Schleicher Perf. Glider | Schleicher / (Lippisch?) | A. Schleicher | ~16-17m? | 20,0 m² | Unbek. | Freitragend, Gö 549 Profil, Rumpf runder Querschnitt | |
Professor (Rhöngeist) | Lippisch | RRG | 16,10 m | 18,6 m² | 166 kg | Erstmaliger Variometereinsatz, Thermikflug, Pendelhöhenruder | |
Ente | Lippisch | RRG / Opel-RAK | 11,94 m | 20,3 m² | Unbek. | Canard, erster bemannter Raketenflug | |
Storch IV (Basis) | Lippisch | RRG | (12,3m V) | (18,5m² V) | (170kg V) | Schwanzlos, Weiterentwicklung aktiv 1928 (Daten von Storch V als Referenz) | |
D-17 Darmstadt | Völker | Akaflieg Darmstadt | 16,00 m | 16,6 m² | 170 kg | Leistungssegler, Streckenrekord Rhön 1928 | |
Albert | (Fulda) | E. Dittmar (Eigner) | Unbek. | Unbek. | Unbek. | Höhenrek |